SRBT
Lange Zeit glaubte man, dass das zentrale Nervensystem eines Erwachsenen nicht in der Lage sei, geschädigte Nervenverbindungen wieder herzustellen. Heute ist es gesichertes Wissen, dass das Gehirn erstaunlich umfangreiche Fähigkeiten zur Reparatur besitzt. Das reicht von veränderten Verknüpfungen von verbliebenen Nervenzellen über das zum Auswachsen geschädigter Nerven oder der Bildung von Stammzellen. Letztere können zum Ort der Schädigung wandern, sich hier zu dem Typ umwandeln, der abgestorbenen Nervenzellen entspricht und neue funktionierende Schaltkreise aufbauen. Nach jeder Verletzung wird das Zentralnervensystem also umgebaut. Angesichts des großen Potenzials stellt sich die Frage, warum dann nach schwereren Schäden das funktionelle Ergebnis der Veränderung oft so dürftig oder sogar negativ ist.
Neuere Untersuchungen rehabilitativer Maßnahmen nach Hirnverletzungen haben gezeigt, dass die Rückbildung einer Lähmung in starkem Maße von Mechanismen geleitet wird, die auch das Bewegungslernen bei Gesunden steuern. Deshalb ist es für eine erfolgversprechende Therapie notwendig, möglichst viele dieser Faktoren zu kennen.
Ganz wichtig ist es, zu beachten, dass motorisches Lernen nicht bei „Null“ startet. Zu Beginn des Lebens wird der Aufbau des Nervensystems zunächst von Genen gesteuert. Dabei werden die Übertragungswege für motorische Befehle zeitlich differenziert aufgebaut, denn unsere Motorik besteht aus zwei unterschiedlichen Abteilungen. Die eine übermittelt den Muskeln Arbeitsaufträge für Bewegungen, die andere Befehle, Körperabschnitte zu halten. Obwohl beide Regelkreise eng zusammenarbeiten, werden diese Nervenimpulse weitgehend über unterschiedliche Nervenbahnen geleitet. Am Beginn des Lebens werden erst die Bahnen aufgebaut, die die Kommandos „bewegen“ übertragen. Hierbei erhalten bestimmte Muskelgruppen (z.B. Beugemuskeln) den Auftrag, sich zu verkürzen und gleichzeitig bekommen ihre Gegenspieler (die Streckmuskeln) die Anordnung, ihre Arbeit zu verringern. Durch den so entstehenden unterschiedlichen Zug an einem Körperteil kommt es zur Bewegung. Kommt ein Kind auf die Welt, ist ein Teil dieser Nervenverbindungen schon angelegt, das Baby kann sich schon bewegen, aber es kann sich nicht gegen die Schwerkraft aufrichten und halten. Kleinkinder bewegen sich während ihrer Wachphasen fast ständig. Dadurch „trainieren“ sie diese Nervenverbindungen, so dass die Muskeln sich immer leichter verkürzen und verlängern lassen. Erst wenn genügend Leitungen aufgebaut worden sind, über die den Muskeln auch die Entspannungsaufträge vermittelt werden, reifen die Nervenbahnen, die die Arbeitsaufträge für Haltearbeit übertragen. Dadurch ist sichergestellt, dass Muskelarbeit stets angemessen begrenzt oder beendet werden kann.
Die motorischen Regelkreise, die während der Reifungsphase entstehen, sind sehr spezifisch und erlauben nicht nur Bewegungsmöglichkeiten, sondern liefern dem Individuum auch Grundmuster für Handlungen wie Gehen und Greifen. Wir sagen zwar, das Kind lernt laufen, aber es lernt diese Tätigkeit nicht, sondern das Nervensystem liefert diese komplexe Handlung. Daher treten diese Fähigkeiten auch bei allen Kindern in ungefähr dem gleichen Lebensalter auf.
Auf der Basis dieses Bewegungsrepertoires kann man sich dann durch motorisches Lernen mehr Geschicklichkeit aneignet sowie neue Handlungsabläufe erwerben. Denn die Struktur und die Funktion des Gehirns sind durch Aktivitäten - also das Verhalten des Menschen - veränderbar. Wenn eine gewollte Handlung immer wieder durchgeführt wird, werden deren nervale Regelkreise ausgebaut, die Tätigkeit wird geschickter, fehlerärmer und schließlich automatisiert.
Viele Bewegungsabläufe sind jedoch sehr schwierig und gelingen anfangs nicht. Wenn das Nervensystem jede wiederholt durchgeführte Bewegung lernen würde, würde es also auch fehlerhafte und damit nicht effektive Handlungen lernen. Damit das nicht passiert, baut das Gehirn vor einer Handlung ein „inneres Bild“ vom angestrebten Ergebnis auf. Wenn der Betroffene wahrnimmt, dass das gewünschte Ziel nicht erreicht wurde, versucht das Gehirn, bei den nächsten Bewegungen den Unterschied zwischen Wunsch und Realität zu vermindern und nur wenn die Rückmeldung kommt, dass das gelungen ist, wird der Lernprozess eingeleitet. Bewegungslernen ist Lernen am Erfolg!
Daher ist es nicht überraschend, dass hochgradig Gelähmte – trotz der grundsätzlichen Möglichkeiten des Gehirns zu einer Reparatur - große Schwierigkeiten haben, die Lähmung zu überwinden und Bewegungen neu zu lernen. Drei Punkte sind besonders problematisch:Damit ein Bewegungsablauf neu erlernt werden kann, - also entsprechende neuronale Regelkreise aufgebaut werden - muss er sehr, sehr oft wiederholt werden. Das ist nicht leicht, denn es gibt unendlich viele Handlungen, die im Alltagsleben wichtig sind. Es ist unmöglich, alle mit einer ausreichend großen Wiederholungszahl zu üben. Daher erscheint ein aufgabenorientiertes Training bei hochgradigen Lähmungen nicht sehr erfolgversprechend.
Der Patient kann in der Regel zwar eine Bewegung planen, aber er kann sie nicht durchführen oder verändern. Damit fehlt die Rückmeldung über den Erfolg, der Lernprozess wird nicht eingeleitet. Um diesen Vorgang doch noch zu veranlassen, muss die Bewegung unterstützt werden. Diese Hilfe muss sehr exakt den zeitlichen und räumlichen Planungen des Patienten entsprechen, damit sichergestellt wird, dass Realität und Wunsch auch genau übereinstimmen.Wenn eine komplizierte Handlung trotz mehrerer Korrekturversuche nicht gelingt, strengen sich Menschen oft zunehmend an. Immer mehr Muskeln bekommen den Auftrag zu arbeiten. Das Resultat ist dann nicht eine bessere, sondern eine verkrampfte Bewegung, weil den Gegenspielern keine Befehle zur Beendigung ihrer Arbeit gegeben werden. Wenn Patienten sich bei ihren Bewegungsversuchen ebenfalls immer mehr anstrengen - und meistens tun sie das - werden überwiegend Nervenverbindungen aktiviert und aufgebaut, die Arbeitsbefehle zu Muskeln, aber keine gleichzeitigen Aufträge zur Beendigung der Kontraktion der Gegenspieler vermitteln, so dass irgendwann Muskel wieder Spannung erzeugen können. Da aber die letztgenannten Verbindungen nicht in gleichem Maße repariert wurden, kann diese Aktivität anschließend nicht mehr gezielt beendet werden. Der Patient leidet von nun an unter einer erhöhten Muskelspannung (spastischem Muskeltonus). Daher muss der Patient unbedingt lernen, dieses im Prinzip normale, aber nach Schädigung des Nervensystems ausgesprochen ungünstige Verhalten zu verändern.
Um diese Probleme zu überwinden, wurde eine neue schädigungsorientierte Therapie entwickelt.
Das Systematische repetitive Basis Training (SRBT) versucht zunächst, wie zu Beginn des Lebens, wieder funktionierende Nervenverbindungen für Bewegung zwischen dem Gehirn und den einzelnen Muskelgruppen herzustellen, damit Arbeitsauftrage sowie die Aufforderung zur Entspannung dorthin übermittelt werden können. Dazu werden selektive Bewegungen um alle Achsen eines jeden Gelenks geübt. Das sind zwar bei einer ausgedehnten Lähmung nicht wenige, aber auch nicht so viele, dass sie nicht ausreichend oft geübt werden könnten. Es hat sich gezeigt, dass, wenn ein Betroffener diese Einzelbewegungen wieder beherrscht, er sie zu den unterschiedlichsten komplexen Handlungen zusammensetzen kann. Die Bewegungen werden in einer Position geübt, in der nicht gegen oder mit Schwerkraft gearbeitet wird. Haltearbeit wird möglichst vermieden. Der Therapeut unterstützt die Bewegung zeitgerecht, soweit der Patient sie nicht alleine durchführen kann und er überwacht, dass der Patient keine Anstrengungen plant. Beides ist gerade in der Phase der kompletten Lähmung nicht einfach und erfordert einen gut ausgebildeten, erfahrenen Therapeuten.
Die Halteaktivität wird erst geübt, wenn der Betroffene wieder die Fähigkeit besitzt, seine Muskeln über den gesamten Bewegungsweg zu verkürzen und zu verlängern. So kann die Entwicklung von Spastizität verlangsamt werden. Die Bewegungen werden jetzt gegen und mit der Schwerkraft ausgeführt, so dass Bewegungs- und Haltearbeit gemeinsam trainiert werden, aber auch immer die Beendigung einer Muskelkontraktion geübt wird. Wenn das für alle Muskelgruppen wieder gelingt, kann der Betroffene Alltagsbewegungen durchführen, und bei denen, die er oft benutzt, auch wieder Geschicklichkeit erreichen.
Allerdings dauert es bei sehr schwer betroffenen Patienten, bei denen in den ersten Wochen nach der Schädigung keinerlei Spontanerholung bei der Lähmung aufgetreten ist, viele Wochen bis Monate, bis durch die Therapie dieser Zeitpunkt erreicht wird. In den meisten Fällen entwickelt sich bis dahin, trotz aller Vorsicht, in einigen Muskeln Spastizität. Denn Muskelspannung wird nicht nur durch eine entsprechende Aktivitätsplanung gefördert, sondern auch durch andere Reize wie z.B. Schmerzen, Angst oder Druck. Deshalb lässt sich die Entwicklung eines Hypertonus nicht verhindern, sondern nur verlangsamen. Daher haben die meisten Patienten jetzt das Problem, dass sie einerseits Muskeln haben, die zu viel Haltespannung aufweisen und andererseits einige, die noch nicht genügend Ausdauerspannung entwickeln können. Der Betroffene muss daher lernen, eine neue Zusammensetzung seiner Arbeitsaufträge zu planen. Dazu gehören weniger Halteaufträge für die spastischen Muskeln, aber mehr für die schwachen Muskeln.
Dieser Lernprozess kann dadurch beschleunigt werden, dass bestimmte Basisbewegungsmuster, die in vielen Handlungen des täglichen Lebens enthalten sind, trainiert werden. Der Therapeut muss die Durchführung dieser Grundmuster analysieren und die Komponenten, die der Betroffene noch nicht beherrscht, anfangs gerade soweit unterstützen, dass die Durchführung der Aufgabe möglich wird. Die Aufmerksamkeit des Patienten muss dann gezielt nach und nach auf noch unvollständige Teilaspekte gelenkt werden. So kann dieser Stück für Stück die Kontrolle zurückgewinnen und schließlich nahezu normale Alltagsbewegungen.
Das Basis-Training wurde für den Arm (Arm-Basis-Training ABT) in zwei Multizenterstudien untersucht und die Wirksamkeit konnte nachgewiesen werden. Darüber hinaus konnte in Einzelfällen, bei denen die Patienten über einen längeren Zeitraum therapiert wurden, auch gezeigt werden, dass die Verbesserungen bei konsequenter Therapie auch zu guten Alltagsfunktionen führen.
verfasst für tettricks von C. Eickhof ( ©2010)
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